Brief an Joachim Gauck, deutscher Bundespräsident-Kandidat  -  Budapest, 24 Februar 2012

Sehr geehrter Herr Joachim Gauck, lieber Jochen,

wir, Unterzeichneten, ehemalige „Andersdenkende“ und  Mitglieder der ungarischen demokratischen Opposition gratulieren Dir aus ganzem Herzen dazu, dass Du mit einem breiten Konsens der Parteien des Bundestags zum Staatschef der Bundesrepublik Deutschland als Kandidaten benannt bist. Diese Entscheidung und die Art ihrer Entstehung ist laut unserer Überzeugung auch eine Anerkennung jener Bürgerbewegung, die in dem Sturz der SED-Diktatur eine bedeutende Rolle spielte. Für uns, Ungarn bedeuteten Deine Person und die Ergebnisse Deiner Arbeit immer ein Vorbild. Du persönlich hast Dich gegen die gestellt, die das Gegenwart mit einem dicken Schlussstrich von der unaufgearbeiteten Vergangenheit trennen wollten, du hast die Besorgnisse der damaligen Bundesregierung überwunden und Du persönlich hast es erkämpft, dass die als geheim eingestuften Dokumenten der gestürzten Diktatur – zum ersten Mal in der Welt – sowohl für die Opfer als auch für die wissenschaftliche Forschung und die breite Öffentlichkeit zugänglich werden. So kann in Deutschland nicht geschehen, was bei uns in Ungarn jeden Tag passieren kann, nämlich, dass sich frühere geheime „Inoffizielle Mitarbeiter“ der ehemaligen Staatssicherheitsdienste heute als hohe weltliche und geistliche Würdenträger mit ihrer angeblich antikommunistischen Vergangenheit rühmen und Prozesse gegen Historiker gewinnen, wenn diese mit Akten belegbare Tatsachen veröffentlichen. Es kommt aber auch nicht vor, dass willkürlich ausgewählte Dokumente zur Kompromittierung der politischen Gegner missbraucht werden.

Wir haben auch Dir zu verdanken, dass wir nach 1990 unseren Mut und Bürgerbewusstsein zurückgewinnen haben, um unserer nationalen Vergangenheit kritisch in die Augen schauen zu können. Die an der Wand des Stasiobjekts dargestellten beispielhaften Handlungen ermunterten dazu, uns, unsere Familien und unserem Gemeinwesen mit all dem zu konfrontieren, was seit dem Holocaust über die kommunistischen Diktaturen unterschiedlicher Prägung bis zum Ausrufung der III. Republik geschah. Das historische Erbe des Holocausts wurde von den Zeithistorikern mehr oder weniger aufgearbeitet, die Diktaturen der Ära Rákosi und Kádár konnte bis jetzt nur bruchstückhaft entsprechend der Erfordernissen des Rechts zur Information und der wissenschaftlichen Forschung aufgearbeitet werden. Hättest Du seinerzeit angesichts der Beschlagnahme der Geheimdokumente des MfS in Berlin  die Notwendigkeit erkannt, die Institution im Rahmen des Grundgesetztes zu schaffen, die dann den Namen „Gauck-Behörde“ trug, dann wären in Ungarn zwei Jahrzehnte lang orientierungslos zwischen der Scylla und Charybdis der politischen Verdummung eines gelenkten Vergessens geschwankt.

Bei uns verkündeten die Kommunisten von einst in der internationalen, unter anderem auch der deutschen Öffentlichkeit, dass es sie waren, die das System verändert hatten. Gleichzeitig prahlt die Rechte damit, dass sie allein dem Kommunismus Widerstand leistete. Wir, ehemalige Dissidenten liessen es zu, dass sie die Vergangenheit nach ihrem eigenen Ebenbild umgestalten. Dein Beispiel, lieber Jochen, zeigt, dass die Vergangenheit  auch nicht im politischen Alltag deformiert, dass sie nicht unbedingt zur Geisel des Gegenwarts werden muss, sondern auch so bleiben kann, wie sie wirklich war. Dazu braucht man allerdings Menschen, die weder ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit haben, noch dazu neigen, aus dieser ein Heldengedicht zu machen, In Dir ehren wir einen solchen Menschen. Wir sind überzeugt, dass Du auch die jetzige Aufgabe so hervorragend meistern wirst, wie die „Gauck-Behörde“ geschaffen und geleitet hast.

Wir wünschen Dir gute Gesundheit und viel Kraft dazu.

Mit freundlichen Grüssen


Attila Ara-Kovács

György Dalos

Gábor Demszky

Róza Hodosán

Miklós Haraszti

Gábor Iványi

János Kenedi

Ferenc Kőszeg

Bálint Magyar

Imre Mécs

Sándor Radnóti

János M. Rainer

László Rajk

Sándor Szilágyi

László Varga

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